Razzien, Verbote und Verhaftungen 1933 bis 1935
Wie Hirschfelds Sexualwissenschaftliches Institut demoliert
und zerstört wurde
(6. Mai 1933)
Bericht aus
Homosexualität in der NS-Zeit:
Dokumente einer Diskriminierung und Verfolgung
Ein zuverlässiger Augen- und Ohrenzeuge, der, ohne selbst dem
Institut anzugehören, die Vorgänge genau verfolgen konnte, hat über
die ungeheuerliche Zerstörung dieser weltbekannten
wissenschaftlichen For-schungs-, Lehr- und Heilstätte in Berlin
folgendes Protokoll aufgenommen:
»Am Morgen des 6. Mai 1933 brachte der >Berliner Lokalanzeiger<
die Nachricht, daß die Säuberungsaktion der Berliner Bibliotheken
von Büchern undeutschen Geistes am Vormittag dieses Tages einsetzen
würde und daß die Studenten der Hochschule für Leibesübungen diese
Aktion im Institut für Sexualwissenschaft einleiten wollten. Dieses
Institut war 1918 in dem früheren Hause des Fürsten Hatzfeld von
Dr.
Magnus Hirschfeld begründet worden und wurde kurz darauf von der
Preußischen Regierung als gemeinnützige Stiftung übernommen.
Es genoß wegen der einzigdastehenden Sammlungen und Forschungen,
seines Archivs und seiner Bibliothek einen internationalen Ruf und
Zuspruch. Vor allem kamen viele ausländische Gelehrte, Ärzte und
Schriftsteller nach Berlin, um dort zu arbeiten.
Auf die erwähnte Zeitungsnotiz hin wurde der Versuch unternommen,
noch einige besonders kostbare Privatbücher und Manuskripte in
Sicherheit zu bringen; es wurde dies aber unmöglich gemacht, indem
der junge Mann mit diesen Büchern von einer Bewachung, die offenbar
bereits während der Nacht das Institut umstellt hatte, festgenommen
und seiner Habe beraubt wurde. Am 6. Mai um 9.30 Uhr erschienen vor
dem Institut einige Lastautos mit ca. 100 Studenten und einer
Kapelle mit Blasinstrumenten. Sie nahmen vor dem Haus militärische
Aufstellung und drangen dann unter Musik in das Haus ein. Da das
Büro noch geschlossen war, befand sich kein eigentlicher Vertreter
des Hauses dort; nur einige Frauen vom Hauspersonal sowie ein dem Hause nahestehender Herr
waren anwesend. Die Studenten begehrten Einlaß in sämtliche Räume;
soweit diese verschlossen waren, wie die bereits seit einiger Zeit
stillgelegten Repräsentationsräume im Parterre sowie das frühere und
jetzige Büro der Weltliga für Sexualreform, schlugen sie die Türen
ein. Nachdem ihnen die unteren Räume nicht viel boten, begaben sie
sich in das erste Stockwerk, wo sie in den Empfangsräumen des
Instituts die Tintenfässer über Schriftstücke und Teppiche
ausleerten und sich dann an Privatbücherschränke machten. Sie nahmen
mit, was ihnen nicht einwandfrei erschien, wobei sie wohl im
wesentlichen sich an die sogenannte >schwarze Liste< hielten.
Darüber hinaus ließen sie aber auch andere Bücher mitgehen, so aus
der Privatbibliothek des Sekretärs Giese beispielsweise ein großes
Tutankamon-Werk sowie viele Kunstzeitschriften. Aus dem Archiv
entfernten sie dann die großen Wandtafeln mit den Darstellungen
intersexueller Fälle, die seinerzeit für die Ausstellung des
Internationalen Ärzte-Kongresses im Londoner Kensington-Museum im
Jahre 1913 angefertigt waren. Sie warfen diese Tafeln zum großen
Teil aus dem Fenster ihren vor dem Hause stehenden Kameraden zu.
Die meisten der anderen Bilder, Photographien wichtiger Typen,
nahmen sie von den Wänden und spielten mit ihnen Fußball, so daß
große Haufen zertrümmerter Bilder und Glasscherben zurückblieben.
Auf die Einwände eines Studenten, daß es sich um medizinisches
Material handle, antwortete ein anderer, darauf käme es nicht
an, es wäre ihnen nicht um die Beschlagnahme von ein paar Büchern
und Bildern zu tun, sondern um die Vernichtung des Instituts.
Unter einer längeren Ansprache wurde dann ein lebensgroßes Modell,
das den Vorgang der inneren Sekretion darstellte, aus dem Fenster
geworfen und zertrümmert. In einem Sprechzimmer schlugen sie einen
Pantostaten, der der Behandlung von Patienten diente, mit einem
Schrubber ein. Ferner raubten sie eine Bronzebüste von Dr.
Hirschfeld. Auch sonst wurden viele Kunstwerke mitgenommen. Aus der
Institutsbiliothek nahmen sie zunächst nur einige hundert Bücher
mit.
Während der ganzen Zeit wurde das Personal bewacht und immer wieder
spielte die Musik, so daß sich große Scharen von Neugierigen vor dem
Hause ansammelten. Um 12 Uhr hielt der Führer eine größere
Schlußansprache, und unter Absingen eines besonderen Schmutz- und
Schundliedes sowie des Horst Wessel-Liedes zog der Trupp ab. Die
Bewohner des Instituts hatten angenommen, daß es mit dieser
Plünderung sein Bewenden haben würde, aber um 3 Uhr nachmittags
erschienen abermals mehrere Lastautos mit SA-Leuten und erklärten,
daß sie die Beschlagnahme fortsetzen müßten, da der Trupp am Morgen
nicht genügend Zeit gehabt hätte, um gründlich auszuräumen. Dieser
zweite Trupp nahm dann nochmals eine gründliche Durchsuchung aller
Räume vor und schleppte in vielen Körben alles mit, was an Büchern
und Manuskripten von Wert war, im Ganzen zwei große Lastwagen voll.
Aus den Schimpfworten ging hervor, daß die Namen der in der
Spezialbibliothek vertretenen Autoren den Studenten zum großen Teil
vertraut waren. Nicht nur Sigmund Freud, dessen Bild sie aus dem
Treppenhaus entfernten und mitschleppten, erhielt die Bezeichnung "der Saujude Freud" sondern auch Havelock Ellis wurde als das
"Schwein Havelock Ellis" bezeichnet. Von englischen Autoren hatten
sie es außer auf Havelock Ellis besonders auf die Werke von Oskar
Wilde, Edward Carpenter und Norman Haire abgesehen, von
amerikanischen Schriftstellern auf die Bücher von dem Jugendrichter
Lindsey, Margaret Sanger und Sylvester Viereck, von französischen
Werken auf die von Andre Gide und Marcel Proust, Pierre Loti, Zola
u.a. Auch die Bücher Van de Veldes und des dänischen Arztes Dr.
Leunbach gaben den Studenten Anlaß, die Verfasser mit Schimpfworten
zu belegen.
Auch ganze Jahrgänge von Zeitschriften, namentlich die
24 Bände der Jahrbücher für sexuelle Zwischenstufen, wurden
mitgenommen. Man wollte auch die ausgefüllten Fragebogen
fortschleppen (mehrere Tausend), und nur der ausdrückliche Hinweis,
daß es sich um Krankengeschichten handle, ließ die Studenten davon
Abstand nehmen. Dagegen war es nicht möglich, zu verhindern, daß das
Material der Weltliga für Sexualreform, die gesamte vorhandene
Auflage der Zeitschrift "Sexus" sowie die Karthothek mitgenommen
wurde. Auch zahlreiche, z.T. bisher noch nicht veröffentlichte
Handschriften und Manuskripte (u. a. von Krafft-Ebing und Karl
Heinrich Ulrichs) fielen den Eindringlingen zum Opfer.
Immer wieder fragten sie nach der Rückkehr Dr.
Hirschfelds. Sie wollten, wie sie sich ausdrückten, einen "Tip"
haben, wann er wohl zurückkomme. Schon vor der Plünderung des
Instituts waren verschiedene Male SA-Männer im Institut gewesen und
hatten nach Dr. Hirschfeld gefragt. Als sie die Antwort erhielten,
daß er sich wegen einer Erkrankung an Malaria im Ausland befinde,
erwiderten sie: "Na, dann krepiert er hoffentlich auch ohne uns;
dann brauchen wir ihn ja nicht erst aufhängen oder totschlagen".
Als am 7. Mai die Berliner und auswärtige Presse von der Aktion
gegen das Institut für Sexualwissenschaft berichtete, wurde von dem
Präsidium der Weltliga ein telegraphischer Protest eingelegt, in dem
darauf hingewiesen wurde, daß sich unter dem gesammelten Material
viel ausländisches Eigentum befände, und man daher doch von
der angekündigten Verbrennung absehen solle. Diese an den
Kultusminister gerichtete Depesche fand keine Beachtung, vielmehr
wurden sämtliche Werke und Bilder drei Tage später auf dem
Opernplatz zusammen mit vielen anderen Werken verbrannt. Die Zahl
der aus der Spezialbibliothek des Instituts vernichteten Bände
betrug über 10.000. Im Fackelzug trugen die Studenten die Büste von
Dr. Magnus Hirschfeld, die sie auf den Scheiterhaufen warfen.«